KLEINE HÄUSER, WEITE RÄUME
Annäherungen an die Ferne
Wer sich mit den Kleinplastiken und Objekten von Sigrid Carl beschäftigt, sie aufmerksam und im Detail betrachtet, macht ganz unterschiedliche, mitunter überraschende Erfahrungen. Immer wiederkehrend jedoch, die Wahrnehmung leitend und bestimmend, ist eine von ihnen. Wie ein roter Faden durchzieht sie die Auseinandersetzung, den visuellen Dialog: Gemeint ist die Spannung zwischen der auffälligen Kleinheit der verschiedenen plastischen Elemente und der unauffälligen Größe der mentalen Bilder, die sie auslösen können. Der erste Eindruck, Anschein des miniaturhaft Einfachen und Eindeutigen, des längst Vertrauten und Wohlbekannten, tritt in den Hintergrund oder verschwindet, sobald der Betrachter dieser anschaulichen Erfahrung folgt. Ihr zeigen und erschließen sich die Plastiken in überraschend aspektreicher Fülle. Ihre Dimensionen verändern sich. Diese Erfahrung und eine durchgängig sich zeigende Abbildlichkeit kennzeichnen die hier ausgestellten, im Sinne einer Serie und damit einem bestimmten Motiv verpflichteten Arbeiten der Künstlerin. Die strenge Abstraktion, so scheint es, ist nicht ihr Metier. Doch täuschen wir uns nicht! Entgegen der geläufigen Ansicht erleichtert die Abbildlichkeit, wichtiger Aspekt des künstlerischen Ansatzes von Carl, die Aneignung ihrer Werke nicht. Prima vista erleichtert sie den Zugang – zu vordergründig, zu simpel aber wäre eine Rezeption, die nur dem mimetischen Aspekt der Werke folgt. Hinzu kommt deren stille, stillebenhafte Aura. Carls Werke verzichten darauf, mit großdimensionierter Emphase zu überrumpeln, mit marktschreierischem Farbgebaren Aufmerksamkeit zu erzwingen, nicht zuletzt den Betrachter mit optischen Affekten zu ködern. Keinem dieser Aspekte begegnen wir. Und das ist gut so. Die subtile, fast homöopathische zu nennende Wirkung der Werke verdankt sich allein dem einfachen Material, der kleinen Geste, der unscheinbaren Konstellation, der kargen Reduktion, der schlichten Inszenierung oder thematischen Anspielung, nicht zuletzt einem bestimmten, die Phantasie anregenden und unterschwellig leitenden Wiedererkennungswert.
Um diese Wirkung zu erkennen und zu deuten, hängt viel davon ab, Carls Konzept von Plastik zu verstehen, die bestimmende Idee ihrer Arbeit. Kunstgeschichtlich betrachtet lokalisiert sich ihr Konzept von Plastik im Figurativen. Was die Künstlerin dabei leitet, ist jedoch nicht die grundsätzliche Skepsis an der Abstraktion noch an den plastischen Ausdrucksmitteln, so wie sie die Gründergeneration eines neuen plastischen Denkens im letzten Jahrhundert zum Ausdruck brachte – Moore, Giacometti, Gonzales oder Brancusi. Sie analysiert und thematisiert nicht – gewissermaßen in kunstimmanenter Reflexion – was die Sprache der Plastik bedingt und wozu sie taugt. Es geht ihr nicht um allgemeine Grundfragen und Grundideen der Plastik, die mit dieser Kunstform seit alters verbunden sind. An all dem ist seit den alten Ägyptern und danach immer wieder gearbeitet worden, häufig vermittelt über den besonderen Kanon der menschlichen Figur oder über einzelne Darstellungsinhalte mythologischer, politischer, literarischer oder theologischer Art. Ihre Arbeit kommt gut ohne diese Inhalte aus, ohne deshalb an Bedeutung einzubüßen. Es geht ihr um etwas anderes. Wohl deshalb richtet sich ihr plastisches Empfinden auch nicht auf die menschliche Figur, den agierenden und sich bewegenden Körper im Raum – obwohl, das mag zunächst widersprüchlich klingen, ausschließlich der Mensch im Zentrum ihrer Arbeit und ihres Interesses steht. Carl zielt mit ihren kleinen Häusern, die sich der Landschaft harmonisch anpassen, zugleich aber in anschaulicher Spannung zur fragmentarisch angedeuteten Größe und Weite ihrer Umgebung stehen, in eine andere Richtung. Was sie uns mit ihren idyllisch einsam gelegenen Klausen zeigt, was sie anspricht und verdeutlicht, ist ein bestimmtes, fast könnte man sagen romantisches Erkenntnisinteresse am Raum, an unterschiedlichen Räumen und Orten und dem, was sie dem Betrachter vermitteln: Eindrücke von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremde, von Offenheit und Verschlossenheit, Unzugänglichkeit, Verlorenheit und Geborgenheit. Damit spiegelt sich in ihren Arbeiten eine Eigenart, die Kunstwerken generell anzuhaften scheint. Was sie dem Betrachter zeigen oder mitteilen, ist stets paradox. Denn was sie zeigen, erschöpft sich nicht im Sichtbaren. Und was sie sagen, ist nicht „Etwas“, dies oder jenes, also etwas Verständliches, eindeutig Bestimmtes. Es bleibt exakter sprachlicher Benennung unerreichbar, durchaus vergleichbar der unerreichbar fernen Nähe dieser Häuser. Weder Einfühlung noch Reflexion machen sie ganz zugänglich. Das verschlossene Schweigen der Häuser ist zugleich aber ihre eindringlichste Sprache. Die kleinen Häuser, Orte entfernter Nähe, verschließen sich dem Betrachter unmittelbar, öffnen sich ihm nur im Sehen. Ohne die figurative Präsenz des Menschen thematisiert Carl damit Grunderfahrungen und Sinnfragen menschlicher Existenz. Oder anders gesagt: Sigrid Carls plastische Miniaturen sind keine in sich geschlossenen Gebilde mit einem Zentrum kompositioneller, perspektivischer oder sonstiger Art. So hermetisch, unzugänglich und unbetretbar sie auch scheinen, sie sind eher offene Konstellationen denn strenge Kompositionen. Weder der Ort noch die Zeit noch die näheren Umstände der Häuser selbst sind auf Bestimmtheit, Deutlichkeit, Eindeutigkeit angelegt. Im Gegenteil. Carls Werke lassen eine „bestimmte Unbestimmtheit“ zu, brauchen sie geradezu, um ihre Wirkung zu entfalten. Nur so, das zeigen ihre Arbeiten, lässt sich das Sprachlose innerer Empfindungen oder Erinnerungen bewahren und doch formulieren. Nur so lässt sich sagen, was sich begrifflicher Eindeutigkeit grundsätzlich entzieht. Carls kleine, raumoffene Plastiken erweisen sich hier als entfernte, ins Schweigen der Natur versunkene optische Inseln, als unbewohnte (?) und nicht betretbare territoriale Bruchstücke, jeder direkten Annäherung entzogen. Sie erscheinen greifbar nah wie idyllisch-grüne Oasen und bleiben gleichzeitig doch so fern wie eine Fata morgana. Das klingt paradox. Doch Carls Arbeiten verwahren sich gegen Nähe, wahren eine Distanz, die keinen räumlichen Abstand meint. Es ist eine Distanz, deren Größe sich nicht objektiv messen, sondern nur subjektiv ermessen lässt.
Wenn es hier nicht darum gehen kann, in die detaillierte Analyse einzelner Werke einzutreten, so ist es doch möglich, anhand des bisher Gesagten die Struktur, die Carls Arbeiten prägt, allgemein zu kennzeichnen. Wie wir schon sahen, ist ihre Pointe der latente Aspektwechsel, die Inversion, der plötzliche Umschlag: vom Kleinen ins Große, vom Begrenzten ins Offene, vom Behausten ins Unbehauste, vom Außen ins Innen, vom Bekannten ins Fremde und Rätselhafte. Dabei führt die Inversion, das Umspringen der Aspekte, zu einer Veränderung der Sicht. Nicht zuletzt bricht der Aspektwechsel auch mit der Dominanz der Abbildlichkeit, führt für einen Augenblick zur Suspendierung des gegenständlichen Motivs. Plötzlich scheint etwas Nicht-Gegenständliches auf. Das kleine Haus, das weder Türen noch Fenster hat, wird selbst zum Tor in eine andere Dimension. In diesem Moment meldet sich das zu Wort, was man das visuelle Potential der Werke nennen kann. Gleichzeitig verändert dieser Augenblick aber auch die Position des distanzierten Betrachters. Er findet sich wieder in einem offenen Wahrnehmungsprozess, wird in flüchtige Erinnerungen verwickelt, dabei dem Zusammenhang des Alltags eher entrissen als darin bestätigt. Sigrid Carls Werke schaffen Nähe und Distanzen. Gerade deshalb können sie den Blick öffnen, lassen sie uns Altes und Bekanntes plötzlich neu und anders sehen. Mit den Kleinplastiken bricht etwas Vertrautes und zugleich Fremdes in die alltägliche Erfahrung ein und findet unsere Aufmerksamkeit. Carl zeigt damit, dass das eigene Auge, welches die Welt wahrnimmt, keine neutrale Instanz ist, kein bloßes Instrument der Einsicht in das, was da nah oder fern vor Augen liegt. Schon den Dimensionen ihrer Plastiken, die meist eine Sicht aus weiter Ferne suggerieren, ist abzulesen, dass hier -neben optischen und plastischen Qualitäten – auch Seelisches, Erinnertes, das Befinden des Blicks, mitveranschaulicht wird. Carl verdinglicht die Innenerfahrung nicht, wenn sie ihre Landschaften und kleinen Häuser gestaltet, sondern zeigt, was passiert, wenn sie auf geeignete Gegenstände trifft. Diesen Resonanzboden der sichtbaren Dinge benötigt sie. An ihm entzündet sich ihre und die Phantasie des Betrachters. Die kleinen Häuser bezeugen das Indirekte der mitschwingenden Emotion, die freilich mehr ist als bloße Stimmung. Entsprechendes trifft auf die Farbgebung zu. Auch sie meint mehr als eine bloße Eigenschaft der Dinge. Sie ist den Dingen nicht äußerlich aufgemalt, sondern geht durch und durch. Von den Dingen wie sie erscheinen, teilt sie deshalb wenig mit, nicht den Schein des Lichts, das sie trifft, nicht ihre sinnlichen Eigenschaften, nicht den Glanz ihrer Individualität. Alles Sichtbare ist einheitlich grün, moosschwammgrün. Die Farbe ist keine Akzidenz mehr und zufällige Eigenschaft, sondern sie gehört zur innersten Substanz der Dinge. Alles ist durchdrungen von ihr, gleich der Grünkraft, der viriditas des Mittelalters.
Ich komme zum Schluss: Carls Arbeiten zeigen nicht nur einen äußeren Sachverhalt, sondern stets auch etwas in und von uns: Etwas, das uns zu denken, zu fühlen, zu vergegenwärtigen oder zu erinnern gibt. In diesem Sinn sind die Arbeiten der Künstlerin „plastische Bilder“ einer Lebensreise, die aus Kontrasten, Spannungen, aus Sehnsüchten, Obsessionen, aus Verweigerung und Einfühlung ihre Kraft holt. Sie sind Orte des Kommens und Gehens, vorübergehende Anhaltspunkte auf dem weiten Weg des Menschen.
Dr. Axel Müller