UNTER FREIEM HIMMEL 
 

Der Titel der Ausstellung Unter freiem Himmel hat Sie neugierig gemacht und in Ihnen eine bestimmte oder eher unbestimmte Erwartung und Vorstellung davon geweckt, was Sie erwarten könnte. Vielleicht haben Sie an Landschaftsbilder gedacht, an Aquarelle, die sich in den intimen Rahmen des Salettls fügen würden. Weit gefehlt, wie Sie schon erkannt haben.

 

Mit Landschaft haben die ausgestellten Objekte schon zu tun. Das Motto der Ausstellung „Unter freiem Himmel“ legt das ja nahe.

 

Landschaften sind seit der Renaissance und besonders im 19. Jh. ein unerschöpfliches Sujet der Malerei, aber eben der Malerei. Landschaften werden Sie in dieser Ausstellung finden, kleine Ausschnitte aus Landschaften. Aber diese Landschaftsstücke sind nicht gemalt, sondern plastisch gestaltet. Wie lässt sich Landschaft mit den Mitteln der Bildhauerei darstellen? Das war die eine Frage, die unsere Künstlerin Sigrid Carl ungetrieben hat. Sie hat mit ihren Landschaftsplastiken ihre Antwort darauf gefunden. Landschaft als Plastik: Das ist etwas ganz Neues, Ungewohntes.

 

Sigrid Carl wollte sich damit nicht begnügen; sie wollte über ihren zerbrechlichen Landschaften auch den Himmel haben, der ja wesentlich zur Landschaft gehört. Der Maler tut sich mit der Darstellung des Himmels leichter. Aber der Bildhauer? Was im ersten Augenblick schier unmöglich erscheint, hat die Künstlerin auf eine überraschende Weise gelöst. Durch die Kleinheit ihrer Objekte und dadurch, dass diese so tief im Raum präsentiert werden, befindet sich der Betrachter scheinbar weit über der Landschaft; er betrachtet diese aus einer Vogelsperspektive. So schafft sich der Betrachter selbst den freien Himmel über den Häusern, Dächern, Hecken und Wäldchen, die Sie bei näherer Betrachtung der Objekte gleich erkennen werden. Der gemalte offene Himmel des Salettls wird von der Künstlerin bewusst zur Verstärkung dieser Illusion genutzt: „unter freiem Himmel“ also.

 

Für Frau Carl ist jede Ausstellung jeweils ein ganz besonderes künstlerisches Ereignis. Die Eigenart des Ausstellungsraumes ist Inspiration und Motivation. Die Objekte werden eigens für diesen Raum und diesen Anlass geschaffen. So auch hier für unser Fürstenzeller Salettl. Dabei hat die Künstlerin auch scheinbar Nebensächliches bedacht: Die Podeste, auf denen die Kunstobjekte ruhen, sind genau der Größe der Solnhofer Bodenplatten angepasst.

 

Frau Carl ist sehr mutig, dem Betrachter diese kleinen, auf den ersten Blick kaum identifizierbaren Gebilde zu präsentieren. Das bearbeitete Material ist wertlos: ein grüner Schaumstoff, Moosschwamm, wie er in Gärtnereien und Blumengeschäften verwendet wird. Die Künstlerin macht es dem Betrachter nicht eben leicht und auch sich selbst nicht, weil sich die Art und Qualität ihrer bildhauerischen Arbeit erst auf den zweiten und dritten Blick erschließt.

Für die Formung dieses Mikrokosmos aus Häusern, Dächern, Bäumen, Hecken, Gräben und Feldern musste sie sich erst ein eigenes feines Instrumentarium bis hin zum Skalpell zusammenstellen.

 

Landschaft lässt zunächst an etwas Heimeliges, Idyllisches denken. Aber das werden Sie nicht finden, auch wenn Sie die Objekte aus der Nähe betrachten. Die Häuser haben keine Türen, keine Fenster. Es gibt keine Lösung für das fragende Auge. Man kann nicht in die Häuser hineinsehen oder hineingehen. Sie bleiben fremd und irgendwie unnahbar. So sind sie für die Künstlerin wie für den Betrachter Abbild einer ungestillten Sehnsucht, eines Wunsches, der nicht in Erfüllung gehen kann. Und damit rührt sie an eine Erfahrung, die jeder von uns machen muss. Dieser eher abweisende Aspekt ihrer Kunstobjekte ist aber nicht das einzige und letzte Wort der Künstlerin. Denn wie könnte jemand mit solcher Akribie und Leidenschaft Ausschnitte einer Landschaft formen, wenn er nicht mit einem wachen Blick des Staunens und der Ehrfurcht vor der Natur auf die Landschaft blicken würde?

 

Abschließend darf ich Ihnen noch einige Angaben zur Person der Künstlerin machen.

Sigrid Carl wurde in Coburg geboren. Sie besuchte die Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, um sich auf den Schuldienst als Kunsterzieherin vorzubereiten. 1983/84 war sie Kunsterzieherin am Maristengymnasium Fürstenzell als ihrer ersten Dienststelle. Es folgten Dienstjahre an einem Gymnasium in Kronach und die Tätigkeit als Seminarlehrerin für Kunsterziehung an einem Gymnasium in Bayreuth. Schließlich kam sie an die Gutenberg-Schule in Frankfurt/Main, einer Fachoberschule für Gestaltung. Hier lehrt sie und ist in der Leitung der Schule tätig.

 

Frau Carl lebt seit 20 Jahren auf der Burg Zwernitz in Sanspareil bei Bayreuth. Dort ist sie gewissermaßen Nachmieterin der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, die unter der Burg den berühmten Landschaftsgarten Sanspareil nach ihren Vorstellungen hatte anlegen lassen.

 

Die Ausstellung, der ich einen guten Verlauf und zahlreiche interessierte Besucher wünsche, ist auch eine Hommage an das wunderschöne Fürstenzeller Salettl. Dafür möchte ich mich als Fürstenzeller bei Ihnen, liebe Frau Carl, herzlich bedanken.

 
Laudatio von Josef Sagmeister, anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Unter freiem Himmel“, Kloster Fürstenzell bei Passau, 2005