UNTER FREIEM HIMMEL?

 

Eine Ausstellung, die sich „Unter freiem Himmel“ nennt, aber im Inneren eines Hauses stattfindet, verwundert auf den ersten Blick. Wie kann das sein: Unter freiem Himmel und gleichzeitig drinnen, nicht draußen?

 

Wie in der Kunst üblich, gibt es gleich mehrere Antworten auf diese Frage. Befindet man sich im Salettl des Klosters Fürstenzell, hat man festen Boden unter den Füßen, Wände mit Fenstern um sich herum und – blickt man hinauf zur Decke, erwartet man eine Decke, sieht aber einen (gemalten) Himmel. Schaut man nun nach unten auf die niedrig am Boden stehenden kleinen Skulpturen von Sigrid Carl, sieht man Häuser, Hecken, Felder – unter freiem Himmel. Der Himmel ist hier aber nicht wie bei der Deckenmalerei des Salettls über eine optische Sinneswahrnehmung zu erfahren. Er ist nicht konkret sichtbar vorhanden, sondern er wird imaginiert. Er bildet sich in unserer Vorstellung, ohne daß er konkret abgebildet ist. Er ist immateriell da und legt sich vergleichbar einer Aura um die kleinen Landschaftsstücke herum. So schaffen sich die kleinen Skulpturen ihren eigenen freien Himmel – und das, obwohl sie sich in der Begrenztheit eines Hausinneren befinden. Die Kleinheit und die für diese Größe ungewohnt und unerwartet niedrige Positionierung der Arbeiten von Sigrid Carl verstärken den Eindruck von der Weite des sie umgebenden Raumes. Selbst wenn man sich auf sie zu bewegt, was meist mit einer Bewegung nach unten oder mindestens mit der Neigung des Kopfes verbunden ist, verliert sich das Gefühl der Entferntheit nicht. Nicht einmal dann, wenn man sie schon fast mit der Nasenspitze berührt. Sie behalten ihre Distanz zum Betrachter. Sie bewahren ihren „freien Himmel“ um sich herum. Der Betrachter kann sich sozusagen in einer Wechselwirkung doppelter Entgrenzung erleben: Der gemalte Himmel über ihm und der vorgestellte Himmel unter ihm, über den Landschaftsstücken.

 

Nicht nur damit gehen die Arbeiten von Sigrid Carl und das Klostersalettl eine eigentümliche Beziehung ein. Wie die Künstlerin betont, sei ihr Interesse am kleinsten Gebäude der Fürstenzeller Klosteranlage gerade durch diese seine Kleinheit geweckt worden. Wie schon in ihrer letzten Ausstellung in einem der kleinsten Bürgerhäuser aus dem 17. Jahrhundert im unterfränkischen Bad Kissingen. Dass diese Ausstellung in Bad Kissingen den Titel „Kleine Häuser“ trug, war geradezu zwingend, zeigten doch alle Skulpturen Häuser weit weg in fern wirkenden Räumen. In Fürstenzell gibt es nach wie vor das Thema „Haus“. Damit beschäftigt sich die Künstlerin seit inzwischen zehn Jahren unablässig. Ihre Häuser treten immer vereinzelt auf, oder wirken zumindest vereinzelt, selbst wenn es zwei – äußerst selten sogar auch einmal drei sind. Das Salettl des Klosters wirkt, ebenso passend dazu, auch vereinzelt. Obwohl es mitten in Fürstenzell steht, ist seine geschichtliche Zugehörigkeit zur Klosteranlage nicht mehr zu sehen. Viel mehr ist die Entfernung davon zu spüren, weil sich neuere Bauten zwischen dem Kloster und dem Salettl dazwischengeschoben haben. Es wirkt allein und ein bischen verloren, obwohl es mitten in einem urbanen, von Menschen gestalteten  Raum steht. Ähnlich den kleinen Häusern von Sigrid Carls Skulpturen, die sich in ebenfalls von Menschen geprägten Landschaften befinden und auch eine Atmosphäre des Alleingelassenseins verströmen. Auch diese Gemeinsamkeit zwischen dem Salettl und den Häusern von Sigrid Carl lassen diesen Ausstellungsort so passend erscheinen.

 

Der Künstlerin kommt es bei Ihren Ausstellungen immer auch ganz besonders auf den Ort an, an dem sie ihre Arbeiten zeigt. Sie sucht sich die Orte, egal ob sie schon einmal Ausstellungsorte waren oder nicht. Orte sind ihr überhaupt wichtig und wie auch ihre Atelierorte zeigen, hat sie, fast wie ein Spürhund, eine Nase für Orte. So hatte sie ihr Atelier nicht nur zuerst im Burggemäuer der Burg Zwernitz im Fränkischen, inzwischen wohnt sie nur noch dort, sondern auch in einem freistehenden Dorftanzsaalgebäude mit alten Tanzlinden davor und einem Garten darumherum, oder später einem ehemaligen verlassenem Königreichsaal in einem Hinterhaus in Frankfurt. Es muß passen. Ebenso, wie der Ort zum Arbeiten, auch der Ort zum Ausstellen. Und der Ort passt hier: das Fürstenzeller Klostersalettl ist nicht nur ein Ausstellungsort, sondern es wird – zumindest temporär für vier Wochen lang – im besten Sinne zu einem „Zuhause“.

 

Pressemitteilung zur Ausstellung: „Unter freiem Himmel“ von Sigrid Carl im Salettl des Klosters Fürstenzell bei Passau, 2005